14
Es war Sonntagnachmittag, und die drei fuhren in drei Wagen zu drei Adressen. Das Los hatte entschieden. Auf Chavez’ Zettel stand ›Channa Nordin-Sheinkman, Kungsholmen‹, auf Holms ›David Sheinkman, Näsbypark‹ und auf Hjelms ›Harald Sheinkman, Tyresö‹. Diese drei waren offenbar die Kinder des Professors, und wenn man bedachte, daß er achtundachtzig war und erst im Alter von dreiunddreißig Jahren 1945 nach Schweden gekommen war, dürften seine Kinder um die Fünfzig sein. Vielleicht zehn Jahre älter als er selbst, dachte Paul Hjelm.
Erst auf dem Weg nach Tyresö merkte er, daß die Adresse, zu der er unterwegs war – Bofinksvägen in Nytorp – mit Leonard Sheinkmans Adresse aus dem Telefonbuch übereinstimmte.
Anscheinend hatte er bei seinem ältesten Sohn gewohnt.
Paul Hjelm quälte sich zwischen Sonntagsfahrern auf dem Tyresöväg dahin und empfand eine gewisse Erleichterung darüber, daß es ihm erspart blieb, die Todesbotschaft zu überbringen; der schreckliche Tod des Vaters konnte dem Sohn kaum unbekannt geblieben sein – so wie er den ganzen Tag in den Medien hinausposaunt worden war. Außerdem war zu hoffen, daß die örtliche Polizei die Nachricht vom Tod des Vaters überbracht hatte.
Die Sonne stand schon tief, und der Himmel war auf ungewöhnlich dunkle Weise blau. Dennoch war es nicht richtig so, wie wenn eine heimtückische Gewitterwolke sich als klarblauer Himmel verkleidet und mit einem finsteren Lachen die grobe Artillerie auf verblüffte Sonnenanbeter losläßt. Es war eher so, als wäre eine Haut von Blau über das Firmament geklebt worden, um zu verdecken, daß der Himmel nicht mehr blau war. Ein schwerer Druck lastete auf der schönen Frühlingslandschaft, und das Licht wirkte künstlich, als hätte ein Bühnenbildner versucht, Natur zu imitieren.
Oder es war einfach nur Paul Hjelm, den es graute.
Den es davor graute, in ein Trauerhaus einzudringen. Davor graute, trauernden Menschen seine konventionellen Fragen zu stellen. Den es graute bei dem Gedanken, blond und ein säkularisierter Christ zu sein und in einer geschützten Werkstatt aufgewachsen zu sein. Und – am Ende kam das eigentliche Eingeständnis – den es davor graute, die Judenvernichtung und die Konzentrationslager und den europäischen Antisemitismus ansprechen zu müssen.
Er war nämlich Schwede, und Schweden mögen solch tabuisierte Themen nicht. Wir kriegen Schweißausbrüche. Am allerliebsten gehen wir ihnen aus dem Weg, und wenn wir dennoch an sie rühren müssen, dann tun wir es mit einer Art distanzierter Ehrfurcht und einer Reihe von Klischees – wie daß es nie wieder geschehen darf. Die Vernichtung der Juden ist eine Abstraktion, über die man gern in großen Worten von einem Rednerpult spricht, mit der man sich jedoch nicht näher einläßt. Wir waren nicht dabei, wir können es nie verstehen, wir haben mit der Sache nichts zu tun, damit müßt ihr selbst klarkommen. Schwedische Geschichtslosigkeit und vorgetäuschte Neutralität in einer unheiligen Allianz. Wir waren in höchstem Maße dabei. Wir haben in allerhöchstem Grad mit der Sache zu tun. Wir können sie in allerhöchstem Grad verstehen. Wir müssen.
Weltmeister im Unter-den-Teppich-Kehren.
Ja, Paul Hjelm gestand es sich ein. Seine Erregung kam daher, daß es sich um ihn selbst handelte. Dieses jämmerliche, oberflächliche Wissen. Fragmentarische Bilder von toten, ausgemergelten Körpern. Jahreszahlen. 1939. 1945. D-Day. Der Wüstenkrieg. Stalingrad als der Wendepunkt des Krieges. Keimfrei und zurechtgelegt wie die Absturzbroschüren auf den Flugzeugsitzen. Fröhlich und heiter greifen wir nach unseren Sauerstoffmasken, atmen still und ruhig, worauf wir uns der Reihe nach und in guter Ordnung zum Notausgang begeben und unter einem klarblauen Himmel lächelnd die aufblasbare Rutschbahn in die einladend schaukelnden blauen Wellen hinuntergleiten.
Und bald waren alle Zeugen tot.
Doch, es lastete ein wirklicher Druck auf der Landschaft. Das Blaue war nicht blau. Das Grüne nicht grün.
Und da war er im Bofinksväg in Nytorp.
Das Haus, in dem Leonard Sheinkman gewohnt hatte und in dem sein Sohn wohnte, war kaum als luxuriös zu bezeichnen, aber es war schön. Ein stilvolles Haus aus den dreißiger Jahren, etwas abseits gelegen und mit herrlichem Meerblick. Wahrscheinlich ein architektonisches Originalwerk aus der Zeit, als solche nicht nur für Neureiche geschaffen wurden, die darauf bestanden, alles selbst zu entwerfen. Nach IKEA-Geschmack.
Er stieg aus dem alten Audi, der sich, da es keinen Stau gegeben hatte, auf dem Weg hierher richtig anständig aufgeführt hatte, und hoffte, daß sein Achselschweiß nicht zu riechen war. Es gibt ja bekanntlich zwei Sorten Achselschweiß, den, der riecht, und den, der nicht riecht. Der eine ist durch Anstrengung hervorgerufen, der andere durch Nervosität. Es würde sich herausstellen, von welcher Sorte das klebrige Naß in seinen Achselhöhlen unter dem Leinenjackett und dem blaßgelben T-Shirt war.
Hätte er sich nicht etwas respektabler anziehen sollen?
Jetzt ist es gelaufen, dachte er und klingelte.
Eine süße Sechzehnjährige machte ihm auf. Im gleichen Alter wie seine Tochter Tova. Sie war dunkel und streng gekleidet und machte den Eindruck aufrichtiger Trauer.
»Paul Hjelm«, sagte er und hielt ihr seinen Polizeiausweis hin. »Ich bin von der Polizei. Sind deine Eltern zu Hause?«
»Geht es um Großvater?« fragte das Mädchen.
»Ja.«
Sie verschwand. Statt ihrer erschien ein gutgekleideter Mann von etwas über Fünfzig.
»Ja bitte?« sagte er.
»Paul Hjelm, Reichskriminalpolizei. Sind Sie Harald Sheinkman?«
Der Mann nickte und bedeutete ihm, hereinzukommen.
Paul Hjelm wurde in ein Zimmer geführt, das die Bibliothek sein mußte. Jedenfalls waren sämtliche Wände von Büchern bedeckt, und der im übrigen anspruchslose Raum lag in einem angenehmen Dunkel. Lesedunkel. Er fühlte sich sogleich zu Hause. Am liebsten wäre er an ein Regal getreten und hätte die Buchrücken durchgesehen, aber er setzte sich statt dessen aufs Sofa. Harald Sheinkman setzte sich dicht neben ihn. Die Nähe war ihm nicht einmal unangenehm.
»Er war fast neunzig«, sagte Harald Sheinkman gedämpft. »Wir wußten natürlich, daß er jederzeit sterben konnte, aber die Umstände …«
Er verstummte und starrte auf den groben Tisch aus Kiefernholz.
»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte Hjelm und kam sich vor wie ein Tölpel.
»Was möchten Sie wissen?«
»Zu allererst, ob Sie eine Ahnung haben, was er auf dem Südfriedhof gewollt hat. Liegen dort Angehörige von Ihnen?«
»Nein. Auf Vaters Seite gab es ja aus erklärlichen Gründen keine Angehörigen, und die Familie meiner Mutter liegt auf dem Nordfriedhof. In Solna.«
»Und Sie wissen nicht, warum er dort war?«
»Wir haben ihn doch bei der Polizei als vermißt gemeldet.«
»Vermißt gemeldet?« stieß Hjelm aus, vielleicht ein wenig barsch.
Sheinkman blickte auf. »Sie wußten also nichts davon? Gibt es keinen Kontakt zwischen den verschiedenen Polizeidienststellen?«
Hjelm überlegte einen Moment. »Ich werde nachforschen, warum diese Information mich nicht erreicht hat, und ich bedaure das. Ihr Vater war also verschwunden?«
»Seit fünf Tagen.«
»War das etwas Ungewöhnliches?«
»Er hatte seinen eigenen Haushalt und war wohl ein wenig ein Eigenbrötler, wir hatten also nicht ständig Kontakt, aber meines Wissens ist er früher nie über Nacht fort gewesen. Nicht seit dem Tod meiner Mutter. Wir haben ihn schon nach der ersten Nacht als vermißt gemeldet.«
»Ihr Vater war fast neunzig. War er auf die eine oder andere Weise verwirrt? Das wäre in diesem Alter ja nichts Ungewöhnliches.«
»Überhaupt nicht«, sagte Sheinkman. »Er war Gehirnforscher und trainierte sein Gehirn sehr bewußt, um jede Form von Senilität zu vermeiden. Als er verschwand, lag das große Kreuzworträtsel von Dagens Nyheter auf dem Tisch. Gelöst bis auf den letzten Buchstaben.«
»Haben Sie nach ihm gesucht?«
»Ich habe es versucht. Ich war an seinem alten Arbeitsplatz im Karolinska, ich war in der KB, wo er zu sitzen pflegte.«
»In der Königlichen Bibliothek?«
Harald Sheinkman zeigte die Andeutung eines Lächelns.
»So fragen die meisten: KB? Die Kneipe? Nein, er ging nie in die Kneipe, dagegen aber in die Bibliothek. Er saß gern den ganzen Tag dort, glaube ich. Aber mir wurde auf einmal klar, wie wenig ich über sein tägliches Leben wußte. Ich hatte zuviel gearbeitet und ihn vernachlässigt, und jetzt war es zu spät, das ahnte ich. Ich wußte nicht, wo ich suchen sollte. Und keiner von den Menschen, die ich fragte, hatte ihn gesehen.«
»Und es hat keine Anzeichen irgendwelcher Art gegeben, daß etwas passiert war? Etwas Ungewöhnliches?«
»Nein. Und mir fallt auch kein Grund ein, warum er auf dem Südfriedhof gewesen sein sollte. Er war überzeugter Atheist und Materialist, wenn auch mit Respekt für unsere jüdische Tradition, aber aus welchem Grund er sich dorthin begeben haben sollte, ist mir rätselhaft.«
»Darf ich fragen, warum Ihr Vater bei Ihnen lebte?«
»Es war umgekehrt. Dies ist unser Elternhaus. Er hat das Haus in den fünfziger Jahren direkt vom Architekten gekauft. Anders Wilgotsson, falls Sie ihn kennen. Es war Vaters Vorschlag, daß ich als der älteste Sohn das Haus übernehmen sollte und er den Dachboden für sich ausbaute. Und es war eine gute Lösung. Familienkontakt und gleichzeitig Selbständigkeit. Vielleicht wurde es ein bißchen zu viel Selbständigkeit … Er verschwand, ohne daß ich es bemerkte. Und wurde ermordet. Unglaublich.«
»Was arbeiten Sie, Herr Sheinkman?«
»Ich fürchte, ich bin in die Fußspuren meines Vaters getreten. Ich bin Arzt. Allerdings nicht in der … zerebralen Branche.«
Es gelang Hjelm, das spontane Lachen in ein Husten und ein darauf folgendes friedliches Lächeln umzulenken.
»Sie haben offenbar unseren verehrten Chef im Fernsehen gesehen.«
Sheinkman produzierte in etwa das gleiche Lächeln.
»Eine nicht besonders würdige Darbietung, um es einmal so zu sagen«, erklärte er mit einer Neutralität, die der Hultins nicht nachstand.
»Nein«, sagte Hjelm. »Nicht besonders.«
»Aber Sie sollen ja recht tüchtig sein. Die A-Gruppe, heißt es wirklich so?«
»Es ist ein Spitzname. Der offizielle Name lautet: ›Spezialeinheit beim Reichskriminalamt für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter‹.«
»Es hört sich so an, als wären Sie hierfür die Geeigneten.«
»Leider sind wir das. Die Tat, der Ihr Vater zum Opfer gefallen ist, muß als ein Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bezeichnet werden. Sind die Details Ihnen bekannt?«
»Ja«, sagte Harald Sheinkman und blickte auf die Tischplatte. »Es hört sich an wie eine Art von Folter.«
»Möglicherweise. Sagt Ihnen das Ganze vielleicht etwas? Als Arzt? Als Sohn eines Mannes, der im Konzentrationslager gewesen ist?«
Sheinkman sah Hjelm mit einem neuen Blick an. Als habe er gerade beschlossen, alles Drumherumgerede beiseite zu lassen, die kleinen mildernden Lügen zu streichen. Vielleicht hatte er Vertrauen gefaßt zu einem blassen, verschwitzten Kriminalbeamten mit rotem Mal auf der Wange.
Er sagte: »Über die Zeit im Lager weiß ich sehr wenig; mein Vater schwieg darüber, als verdrängte er es bewußt. Und meine Kompetenz als medizinischer Experte ist begrenzt. Ich habe mein ganzes Leben als Allgemeinpraktiker in sogenannten Problembereichen gearbeitet. Ich habe mich um Menschen gekümmert, die geflohen waren vor Folter und Hunger und Strapazen. Das war oft ein Vierundzwanzigstunden-Job, zuweilen an der Grenze des Erträglichen. Es blieb gar nicht aus, daß man vieles mit nach Hause schleppte. Außerdem habe ich bei Ärzte ohne Grenzen mitgemacht und bin in der Welt herumgereist. Schließlich war ich ausgebrannt. Mehrere Monate lang vollkommen passiv; erst jetzt, wo es auch Journalisten zu treffen beginnt, wird es beachtet. Krankenhauspersonal ist seit Jahrzehnten ausgebrannt. Meine Frau hat mich verlassen und unsere Tochter mitgenommen, ich konnte den Kredit für unser Wohnrecht auf Södermalm nicht bezahlen und mußte hierher ziehen, zu meinem Vater. Das war vor zwölf Jahren. Ich lag hier, auf diesem Sofa, völlig am Ende. Ich war neununddreißig und hatte alles verloren. Da kam mein Vater auf die Idee, mir das Haus zu überlassen und sich selbst im Dachgeschoß eine Wohnung auszubauen. Ich glaube, man kann sagen, daß das meine Rettung war. Ich fing noch einmal von vorn an. Baute alles wieder auf. Bekam das Besuchsrecht für meine Tochter. Fing wieder an zu arbeiten, und außerdem begann ich zu schreiben. Jetzt habe ich meine frühere Arbeitskapazität wieder erreicht.
Doch sie sieht jetzt etwas anders aus. Ich schrieb zunächst Lageberichte über das schwedische Gesundheitswesen und die Vororte mit hohem Einwandereranteil. Es war schwer, das zu veröffentlichen. In letzter Zeit habe ich angefangen, Prosa zu schreiben. Ich habe ein paar Erzählungen in Zeitschriften publiziert und arbeite an einem Roman. Man könnte sagen, daß ich genau den entgegengesetzten Weg zu dem meines Vaters gegangen bin.«
Er schwieg. Paul Hjelm betrachtete ihn. Dies war eine Warnung: Wie leicht machte man sich von einem Menschen ein falsches Bild. Wie leicht beurteilte man ihn voreilig. Er hatte Harald Sheinkman als den Professorensohn gesehen, dem alles geschenkt worden war, und in gewisser Weise mochte das zutreffen. In gewisser Weise aber auch ganz und gar nicht. Eine Lebensweisheit: Nie voreilige Schlüsse ziehen über andere Menschen. Es endet immer ungut.
Er wollte Harald Sheinkman etwas über seine Überlegungen zur Gegenwart sagen. Daß wir zwar den gegenwärtigen Rechtsextremismus gehörig unter Kontrolle behalten müssen – aber daß die Geschichte sich wahrscheinlich nicht in so direkter Form wiederholen würde. Von der Wiederkehr des Faschismus war er ziemlich überzeugt, doch würde er wahrscheinlich auf eine eher schleichende, indirekte Weise eintreten – er würde sich sozusagen in unserem Rücken anpirschen, während wir auf seine einfachen, augenfälligeren Erscheinungsformen achtgaben – und plötzlich würden wir einem Menschen gegenüber sitzen und ihn als Objekt ansehen, als Gegenstand, als Ertragspotential. Daß der Ökonomismus das Vorstadium des neuen Faschismus war, davon war er überzeugt.
Doch er sagte nichts davon und wurde statt dessen wieder zum Polizisten: »In welcher Weise sind Sie den entgegengesetzten Weg gegangen wie Ihr Vater?«
»Ich bin der Arzt, der Schriftsteller wurde. Er war der Schriftsteller, der Arzt wurde. Vor dem Krieg war er Schriftsteller, so viel weiß ich über seine Vergangenheit. Er kam aus Berlin und hatte eine Frau und einen kleinen Sohn, die beide das Konzentrationslager nicht überlebt haben; ich habe also einen seit langem toten Halbbruder. Die ganze Familie wurde ausgelöscht. Er blieb als einziger übrig. Damit konnte er nicht leben. Also fing er noch einmal von vorn an. Wendete das Blatt im Buch des Lebens, nehme ich an. Er war also vorher Schriftsteller, ein ziemlich verträumter und lyrischer Dichter, den Tagebüchern nach zu urteilen, aber nach dem Krieg wandte er sich der Naturwissenschaft und der Medizin zu. Ich vermute, er brauchte etwas Handfesteres und Beständigeres. Der Geist starb im Lager, die Materie überlebte. So kann man es vielleicht sehen.«
»Er hat also in Buchenwald Tagebuch geführt? Gibt es das noch?«
Sheinkman nickte. »Oben bei ihm.«
»Apropos«, sagte Hjelm. »Ich muß Sie bitten, mir seine Wohnung zu zeigen.«
»Natürlich«, sagte Harald Sheinkman, nickte und stand auf. Hjelm folgte ihm durchs Haus und eine Wendeltreppe hinauf, die relativ jungen Datums zu sein schien. Dann gelangten sie in Leonard Sheinkmans kleinen Unterschlupf. Es war hell und warm. Auch hier waren die Wände mit Büchern vollgestellt, hauptsächlich medizinische Fachliteratur, aber auch eine ganze Reihe literarischer Klassiker. Auf dem Küchentisch lag tatsächlich ein ausgefülltes Kreuzworträtsel aus Dagens Nyheter – sonst nichts. Es war klinisch sauber.
»Haben Sie hier abgewaschen?« fragte Paul Hjelm.
»Nein«, sagte Sheinkman. »All das hat er problemlos selbst gemacht. Er mochte keine Unordnung, das ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen. Immer alles sauber und an seinem Platz. Es war ziemlich anstrengend. Auch für meine Mutter, meine ich mich zu erinnern. An sie erinnere ich mich allerdings nicht so gut. Die Bilder verblassen langsam. Bald ist nichts mehr da.«
»Ist es Ihnen recht, wenn ich die Wohnung allein ansehe? Wir schicken nachher auch noch ein paar Leute von der Spurensicherung her.«
»Natürlich«, sagte Harald Sheinkman und verschwand lautlos.
Paul Hjelm blickte ihm einen Moment nach. Dann ging er ein wenig unschlüssig durch die kleine Wohnung; er zählte zwei Zimmer und Küche. Das Licht fiel durch eine ganze Reihe schräger Dachfenster herein, und sämtliche Außenwände waren Schrägen. Eine Art von Existenz in der Schrägen. Und ohne Zweifel war diese Existenz in der Schrägen makellos gepflegt. Nirgendwo ein Staubkorn.
Zuerst jüdischer Dichter im kosmopolitischen Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre. Dann Frau und Kind. Und schließlich das Konzentrationslager, in dem Sohn und Ehefrau und Mutter und Vater und sämtliche Verwandten unter grauenhaften Verhältnissen ums Leben kommen. Er überlebt, halb verhungert und gefoltert. Jede Illusion, jeder Glaube, jede Hoffnung ist dahin. Er geht in ein fremdes Land, fort von allem. Er fängt noch einmal an, from scratch. Lernt die Sprache, gründet eine neue Familie, verschafft sich eine Ausbildung, bekommt eine respektable Arbeit, wird angesehener Forscher, kauft ein Haus direkt vom Architekten, rettet einen Sohn, der im Begriff ist, zugrunde zu gehen, und wohnt nach dem Tod der Ehefrau weiter mit dem Sohn zusammen. Es hört sich an, als wäre Leonard Sheinkman das Unmögliche gelungen – wie merkwürdigerweise vielen anderen. Er bekam ein gutes neues Leben. Aber wie es dabei in seinem Innern aussieht, vermag niemand zu sagen. Der Zwang zu Ordnung und Sauberkeit war vollkommen natürlich nach Jahren im Konzentrationslager; daraus ließen sich keine Schlüsse ableiten.
Paul Hjelm mußte das Tagebuch lesen.
Es ließ sich nicht umgehen.
Schließlich fand er es in einem Bücherregal quer über den Büchern; es war das einzige in der ganzen Wohnung, was ein bißchen gegen die generelle Ordnung verstieß. Die vergilbten handbeschriebenen Seiten waren intensiv gelesen worden, geknickt und abgegriffen. Alles in allem umfaßte das Bündel nicht mehr als zehn Seiten.
Und auf deutsch.
Ein Strich durch die Rechnung. Doch verglichen mit der Leistung Leonard Sheinkmans war das ein Klacks. Er mußte ganz einfach sein vergessenes Deutsch vom Gymnasium wieder auffrischen.
Die Seiten waren sorgfältig datiert und paginiert, und es schien keine verloren zu sein. Es hieß also nur anfangen.
Nur …
Er nahm die vergilbten Seiten an sich und stieg die Wendeltreppe hinab. Harald Sheinkman saß auf dem Sofa und schien erschöpft zu sein. Er stand auf, als Hjelm herunterkam, und trat ihm entgegen.
»Dies ist wohl das Tagebuch«, sagte Hjelm und wedelte mit den Seiten. »Ist es in Ordnung, wenn ich es mitnehme? Sie bekommen es zurück.«
»Natürlich«, sagte Harald Sheinkman. »Sie lesen also Jiddisch?«
Hjelm stutzte und starrte verblüfft auf die vergilbten Blätter. Die Worte veränderten sich vor seinen Augen. Dann blickte er auf und sah Sheinkman an. Ein sehr entferntes Lächeln spielte um dessen Mundwinkel.
»Nein«, sagte Harald Sheinkman. »Nur ein Scherz. Es ist Deutsch.«
Paul Hjelm betrachtete ihn, dann fing er an zu kichern. Der Mann gefiel ihm. »Noch eine Frage«, sagte er schließlich. »Was für ein Mensch war Ihr Vater?«
Sheinkman nickte, als habe er auf die Frage gewartet. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Schwer zu sagen. Als wir Kinder waren, stellte er hohe Ansprüche. Ziemlich hart, ein bißchen der klassische Patriarch. Wir sollten alle drei Ärzte werden, da gab es gar keine Diskussion. Mehr oder weniger ist ihm das ja auch gelungen. Am besten ging es meinem kleinen Bruder David; er ist als Gehirnchirurg tätig und Dozent im Karolinska und wird vermutlich bald Professor. Allerdings später als Vater. Er ist jetzt dreiundvierzig. Zwischen uns beiden liegt Channa, die begehrte auf und war in den Siebzigern in der linken Szene aktiv; jetzt unterrichtet sie an der Sozialhochschule. Und ich, als ältester Sohn, absolvierte problemlos mein Medizinstudium, weigerte mich aber danach, mich auf etwas anderes zu spezialisieren als auf Allgemeinmedizin. Zunächst kam es Vater hart an; er hatte in mir den Erwählten gesehen. Und als ich anfing, in Tensta und Rinkeby zu arbeiten, schüttelte er nur den Kopf. Aber ich glaube, daß er schließlich respektierte, was ich tat. Er war kein unzugänglicher Mensch. Als es mir dreckig ging, war er ein Fels in der Brandung. Als die ganze Welt schwankte, war er der feste Punkt. Da hatten wir ein wirklich gutes Verhältnis. Er war gerade pensioniert und noch sehr vital und hatte sich nach dem Tod meiner Mutter endlich erholt. Doch dann glitten wir wieder auseinander, und ich kann eigentlich nicht sagen, daß ich ihn kannte. Er war ein Mann, der einst ein ganz anderes Leben gehabt hatte, und in das Leben kam nie einer von uns hinein, nicht einmal meine Mutter.«
Hjelm nickte und streckte ihm die Hand hin. »Vielen Dank«, sagte er. »Wir lassen wieder von uns hören.«
»Es war schön, mit Ihnen reden zu können«, sagte Sheinkman und fügte hinzu: »Paul.«
»Es geht mir genauso. Harald.«
Auf dem Weg hinaus verabschiedete Hjelm sich von der Tochter. Eine Weile blieb er noch in dem alten Audi sitzen und blätterte die vergilbten Seiten durch. Dies war also in einem Konzentrationslager geschrieben worden, in dem grauenhaften Buchenwald. Irgendwie war es Leonard Sheinkman, dem Dichter aus Berlin, gelungen, Papier und Bleistift zu ergattern und vor den Lagerwachen zu verstecken. Das war eine bemerkenswerte Leistung.
Er startete den Motor, verließ den Bofinksväg und fuhr hinaus auf den Breviksväg, der bald zum Tyresöväg werden sollte. Der Himmel war noch immer klarblau, aber es war, als sei jene Haut durchbohrt und weggeweht worden – und der Himmel dahinter war tatsächlich blau. Der Druck, der auf der Landschaft gelegen hatte, war geschwunden, und die Natur war friedlich und frühlingshaft schön.
Es würde, trotz allem, auch in diesem Jahr wieder Sommer werden.
Das Handy klingelte. Es war Jorge Chavez. »Tatsächlich.« Das war alles.
Und Paul Hjelm verstand sofort. »Sie war also da?« sagte er.
»Die Techniker hatten eine unglaubliche Masse Kram aus dem Vielfraßgehege zusammengetragen, das muß ich sagen. Angefangen bei Brotstücken, als wären die Vielfraße Enten, bis zu Mausefallen. Zwei Mausefallen waren im Vielfraßgehege, eine davon war noch gespannt.«
»Das ist ein neues Volksvergnügen. Tiere zu quälen. Pferde werden in unseren offenen Landschaften regelmäßig gequält.«
»Außerdem acht Bierdosen. In einer der Bierdosen lag die lange, spitze Nadel. Ein Vielfraß muß unter dem Einfluß des Rauschgifts den Schädel gefressen, die Nadel wie eine Gräte in den Hals bekommen und sie irgendwie in eine Bierdose ausgespuckt haben.«
»Unergründlich sind die Wege des Herrn«, sagte Paul Hjelm und fuhr nach Hause.
Nach Hause ins Polizeipräsidium.